Interaktionsstile

Bei den Studierenden wurden in den bedeutsamen Situationen Präferenzen dafür deutlich, in welchem Bereich sie die Erfahrung von Wirkmacht bevorzugten. Dies führte in der Folge zu unterschiedlichen „Interaktionsstilen“. Die Bevorzugung eines Bereichs war gerade in den Fällen offensichtlich, in denen eine Begebenheit aus unterschiedlichen Perspektiven von mehreren Studenten geschildert wurde. Die Annahme, die Studenten hätten verschiedene Präferenzen, konnte dabei die unterschiedliche Beschreibung erklären. Aber auch in den anderen Fällen schien einigen Lehramtstudenten das wichtigste, die eigene Stellung zu verteidigen, anderen, eine annehmende Beziehungsqualität zu erreichen und für dritte, besonders gute Leistungen zu erbringen. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit einer Typologie im Rahmen der gegenstandsverankerten Theorie (also Hypothese). Die Typologie verfolgt dabei die Idee, dass sich die Studierenden in Bezug auf zwei wesentliche Dimensionen unterscheiden:

a) In der Datengrundlage gab es Anzeichen dafür, dass die Lehramtstudierenden zu einer grundsätzlichen Bevorzugung einer der OK-Korridore tendieren. Einige bevorzugten dann, wenn sich zwei OK-Korridore widersprachen eher den Selbstkorridor, Andere wiederum den Fremdkorridor und wieder Anderen war es wichtig, den eigenen Richtkorridor durchzusetzen. Das war der Anlass zur Idee, dass sich auch für die Wahrnehmung und Abwägung zwischen den verschiedenen Korridoren „Typen“ herausbilden, die durch unterschiedliche Dispositionen im Selbstbild gekennzeichnet sind. Das erste Kriterium ist also die Überlegung, welche Korridore je nach Wirkmachtpräferenz wahrgenommen und bevorzugt werden. Dabei ist offensichtlich jenen, denen die Verteidigung ihrer eigenen Stellung am wichtigsten ist, der Richtkorridor am bedeutsamsten. Er bestimmt die Durchsetzung von Interessen, indem er die eigenen Handlungserwartungen an Andere in den Mittelpunkt stellt. Dagegen ist jenen, die ausdrücklich Rückmeldung über ihre Leistung bekommen möchten, wichtiger, ihrem eigenen Selbstkorridor zu entsprechen. Und jene, denen die Beziehung zum Gegenüber und die Beziehungsqualität besonders wichtig sind, werden vermutlich besonders empfindsam für den Fremdkorridor des Interaktionspartners sein.

b) OK-Korridore sind wesentlich von den Wertvorstellungen einer Person geprägt und bestimmen so die Handlungserwartungen an sich selbst und an Andere. Der Selbstkorridor kann dabei inkonsistent und willkürlich sein oder Zielen zuarbeiten, die als problematisch einzuschätzen sind (z.B. möglichst viel Macht über andere besitzen oder nur nie etwas tun, das Distanz erzeugen könnte). Die Frage ist also, welche Werte „gut“ oder „richtig“ sind. Wenn mit Kant allein der sittliche Wille als absoluter Wert verstanden wird (Kant 1785), dürfen Werte nicht intraindividuell bewertet, sondern nur von übergeordneten Maßstäben her betrachtet werden („Sitte“). Um Werte auf diese Maßstäbe hin zu ordnen, können laut Höffe drei Hauptgruppen und zugleich Rangstufen von Werten unterschieden werden:

"Die erste Stufe der instrumentalen beziehungsweise funktionalen Werte gilt nur unter Voraussetzung einer gewissen Absicht. Wer etwa reich werden will, braucht weit mehr Einnahmen als Ausgaben. Nicht identisch, aber damit verwandt ist die Tugend der Sparsamkeit. Andere funktionale Werte beziehungsweise Tugenden sind Konzentration und Pünktlichkeit, Ordnungsliebe, Folgsamkeit und Fleiß. Wie der Ausdruck sagt, sind funktionale Werte nicht in sich gut; es kommt alles darauf an, wofür sie eingesetzt werden.

Die zweite Stufe der pragmatischen Werte steht im Dienst des pragmatischen Leitwertes, der minimal im „Überleben“, optimal aber im „Glück“ oder „Wohlergehen“ besteht. Individualpragmatische Werte wie Besonnenheit dienen dem langfristigen Wohl eines Individuums, sozialpragmatische Werte wie die Rechtssicherheit dem Wohl eines Gemeinwesens, dem Gemeinwohl.

Erst die dritte Stufe, die moralischen Werte, fordern zu Handlungen auf, die nicht wegen etwas anderem, sondern für sich selbst gut und richtig sind. Als Grundlage aller anderen Werte haben sie den Rang moralischer Grundwerte. In der Regel nicht an Sonderbedingungen eines bestimmten Gemeinwesens gebunden, zeichnen sie sich durch allgemeinmenschliche Gültigkeit aus. Innerhalb der Moral kann man noch drei Modalitäten beziehungsweise Teilstufen unterscheiden: Verbote, deren Anerkennung die Menschen einander schulden, etwa wie Verbote von Betrug, Diebstahl und Mord, entsprechend geschuldete Gebote wie die Anerkennung von Eigentum und Leib und Leben, schließlich verdienstliche Mehrleistungen wie Mitleid und Wohltätigkeit.“ (Höffe 2006, S. 84fff.)

Wurden bisher individuelle Werte ohne Berücksichtigung ihrer „Güte“ betrachtet, rücken bei der Typologisierung nun moralische Werte/ Grundwerte im Sinne der dritten Rangstufe mit ins Blickfeld. Das Verknüpfen des Selbstbilds mit stabilen sozialen Werten ist eine wichtige Variable und ein Kriterium der Typologisierung. Zudem ist relevant, ob diese gebildeten Werte kohärent sind oder ob sie sich je nach Situation verändern beziehungsweise schon in sich unstimmig sind.

Die Typen, die sich aus den beiden genannten Dimensionen ergeben lauten:

Es gibt einen „Nachgiebigen“ Typus, der Wirkmacht bevorzugt aus seiner Fähigkeit bezieht, eine gute Beziehungsqualität erreichen zu können. Er nimmt begünstigt Fremdkorridore wahr und tendiert dazu, Anforderungen aus Fremdkorridoren zu entsprechen.

Das Gegenstück dazu ist der „Fordernde“ Typus, der Wirkmacht aus der Fähigkeit, ein gewünschtes Stellungsgefüge herzustellen, bezieht und in der Regel anderen gegenüber seine Richtkorridore durchsetzt, die er besonders intensiv wahrnimmt.

Dazwischen existiert der „Inkonsistente“ Typus, ihn zeichnet vor allem aus, dass er keine kohärenten Werte gebildet hat, oder die gebildeten Werte nicht den Charakter von moralischen Werten im Sinne der dritten Rangstufe haben. Er findet sich daher öfter als die anderen Typen in Korridor-Konflikten und in den „fraglichen“ Zonen seiner OK-Korridore wieder. Seine problematische Wertbildung führt auch dazu, dass er grundsätzlich weder einen bevorzugten Selbstbild-Bereich noch bevorzugt wahrgenommene Korridore hat. Deshalb genügt er ohne erkennbare Regeln einmal Fremdkorridoren und setzt ein anderes Mal Richtkorridore hart durch. Ist dieser Typus näher an den „Nachgiebigen“, ist das Handeln insofern nicht kohärent, als Außenstehenden nicht klar ist, wann nachgegeben wird und wann nicht. Ein grundsätzliches Ziel könnte beispielsweise sein, niemanden zu verletzen, aber an einem bestimmten, nicht vorhersehbaren Punkt, wird es dem Akteur zu viel und er reagiert als Überreaktion in einer überraschenden Härte. Von außen erscheint dieses Vorgehen unberechenbar. Ist der „Inkonsistente“ Typ dagegen eher an den „Fordernden“ orientiert, so folgt das Vorgehen zwar bestimmten Regeln, ist aber nicht für alle oder nicht immer gleich, so dass das Verhalten grundlegend unfair erscheint. Das Ziel wäre hier grundsätzlich, sich durchzusetzen, wobei aber bei bestimmten Schülern oder in bestimmten Situationen eine Ausnahme gemacht wird, was eine andere Art mangelnder Konsistenz darstellt und auch ausdrückt, dass seine Wertbildung keine höhere Rangstufe erreicht hat.

Demgegenüber, und ebenfalls zwischen den „Nachgiebigen“ und den „Fordernden“, befindet sich der „Abwägende“ Typus. Abwägende sind vor allem dadurch bestimmt, dass sie kohärente und moralische Werte gebildet haben und sich an diesen orientieren. Sie haben zwar wie der „Inkonsistente“ Typus keine Präferenz für einen OK-Korridor, jedoch bemühen sie sich, alle relevanten Fremd- und Richtkorridore sowie ihren Selbstkorridor wahr- und ernst zu nehmen. Dies ist notwendig, um überhaupt moralisch höher stehende Urteile fällen zu können. Wenn die Abwägenden einen Selbstbild-Bereich bevorzugen, so ist dies die Fähigkeit, gute Leistungen im Sinne ihrer Werthaltungen erbringen zu können. „Abwägende“ kommen mit Korridor-Konflikten deshalb besser zurecht als die anderen Typen, weil ihnen durch ihr kohärentes Wertesystem Entscheidungen leichter fallen. Dabei werden auch oft Kompromisse in Erwägung gezogen. Kompromisse meinen hier, was im so genannten “Harvard Konzept” mit „hard on the issue soft but on the person“ gemeint ist (vgl. (Fisher/Ury/Patton 2004): Die Menschen sollten getrennt von dem vorliegenden Problem gesehen und behandelt werden. Übertragen bedeutet das, dass die Lehramtstudenten bis zu einem bestimmten Bereich oder bis zu einem bestimmten Grad Fremdkorridoren entsprachen („soft on the person“), aber im Gegenzug darauf bestanden, dass auch ihrem eigenen Richtkorridor in einem bestimmten Bereich oder zu einem bestimmten Teil entsprochen wird („hard on the issue“) (siehe auch 4.2.2). Der „weiche“ Umgang mit der Person des Gegenübers ist dem „Nachgiebigen“ Typus näher, der „harte“ Umgang in der Sache dem „Fordernden“.

Die folgende Grafik stellt alle beschriebenen Typen auf einen Blick dar. Aus den Eigenschaften der Typen ergibt sich jeweils ein typischer Interaktionsstil:

100705 OK-Korridor-Typen aufgemotzt- ohne Rechtschreib

Die linke Hälfte dieser Darstellung unterscheidet sich von der rechten insofern, als dort inkohärente oder unmoralische Werte gebildet werden. Die rechte Hälfte zeichnet sich dagegen eben durch kohärente und moralische Werte im Sinne der dritten Rangstufe nach Höffe aus. So kann sich ein „Nachgiebiger“ Typus entweder aus moralischen Werten für die Bevorzugung eines Fremdkorridors entscheiden (altruistisch), aber auch, weil er unter allen Bedingungen Anschluss sucht und beliebt sein möchte. Auf der anderen Seite kann ein „Fordernder“ entweder zum Wohle der Schüler seine Prinzipien streng vertreten und deshalb seinen Richtkorridor durchsetzen wollen, oder aber er genießt es, Macht zu besitzen und diese auszukosten, was als unmoralisch eingestuft werden kann. Das Modell zeigt, dass „Nachgiebigkeit“ und „forderndes Verhalten“ nicht im Grundsatz negativ zu beurteilen sind. Problematisch werden sie durch einen „problematischen“ Hintergrund“, also wenn sie nicht mit kohärenten/moralischen Werten abgeglichen werden. Die vier entwickelten Typen können jeweils unterschiedlich leistungsmotiviert sein, also ihren Selbstkorridor je unterschiedlich stark präferieren.